Ein eindrücklicher Schicksals-Bericht...



Noch nach 40 Jahren laufen mir kalte Schauer über den Rücken, wenn ich von Hüft-Dysplasie höre, der Erkrankung, die mir drei Jahre meiner Kindheit geraubt hat.

Heute bin ich 46 Jahre alt und darf mich glücklich schätzen, ein freies und unabhängiges Leben führen zu können. Ich wohne in einer wunderschönen Umgebung, habe liebe Menschen, die mein Leben bereichern, einen anspruchsvollen Beruf, der mir gefällt, und kann meinen Freizeitbeschäftigungen mit wenigen Einschränkungen nachgehen.

Das war leider nicht immer so...

 

Meine Kindheit wurde nach fünf Jahren jäh unterbrochen, als meine Eltern merkten, dass ich zu hinken begann. Es wurde eine Fehlentwicklung der linken Hüfte festgestellt, die Ärzte diagnostizierten eine Hüftdysplasie.

Ich wurde kurzerhand aus meiner Familie gerissen, für zwei Jahre in eine Kinderklinik gesteckt, dort in einen Streckverband eingespannt, der mich danach ein weiteres Jahr zur Bewegungsunfähigkeit verurteilte. Wohl kaum jemand kann sich vorstellen, was es für ein Kind, das dabei ist, die Welt zu entdecken, bedeutet, zwei Jahre lang mehr oder weniger reglos herum zu liegen, in einer fremden Umgebung, umgeben von fremden Menschen, ohne Liebe und Zuwendung, von schrecklichen Alpträumen geplagt.

Meine Eltern durften mich in der Klinik maximal einen Sonntagnachmittag im Monat besuchen und da ich jedes Mal, wenn die Besuchszeit vorbei war, ein fürchterliches Theater aufführte, riet man ihnen sogar, selbst auf diese wenigen Besuche zu verzichten. Ein einziges Mal liess man mich für einen 'Ferienaufenthalt' nach Hause, in einen Gips vom Becken links bis zum Fuss und rechts bis zum Knie gezwängt, auf dem Sofa liegend dazu verdammt, den Anderen beim Spielen zuzuschauen.

Im Spital verbrachte ich die Tage mit anderen Kindern in einem grossen Saal. Den Älteren wurde von den Ordensschwestern Unterricht erteilt und obwohl ich eigentlich noch zu jung dafür war, lernte ich früh lesen, schreiben und rechnen, das einzige, das ich aus eigener Initiative tun konnte.

Mit sieben Jahren wurde ich aus der Klinik entlassen. Da ich das erste Schuljahr offiziell im Krankenhaus absolviert hatte, kam ich direkt in die zweite Klasse. Dort wurde ich schnell zur Musterschülerin, denn das meiste kannte und konnte ich längst. Leider machte mich das nicht gerade beliebt und da ich noch eine ganze Weile gehbehindert war, war ich hilflos den grausamen Spielen der anderen Kinder ausgesetzt. So wurde ich auf dem Schulweg in die Brennnesseln gestossen, mir wurde die Tür vor der Nase zugeknallt oder ein Bein gestellt. Noch heute zeugen ein paar kleine Narben von diesen Attacken.

Später kompensierte ich die damalige Hilflosigkeit mit einem unbändigen Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Bewegung, das mich noch immer antreibt. Ich studierte Chemie und bin heute im mittleren Kader einer Forschungsinstitution tätig. Doch obwohl ich mich heute ziemlich frei bewegen und viele Arten von Sport betreiben kann, lässt mich mein altes Hüftleiden nicht los. Ich bekomme Schmerzen nach langem Stehen oder Gehen, ich kann nicht joggen, längere Wanderungen sind eine Tortur. So manche ausgiebige sportliche Aktivität, die ich mir heute gerne und oft leiste, rächt sich anschliessend durch tagelange Schmerzen selbst beim Liegen.

Wenn meine Hüftdysplasie kurz nach der Geburt entdeckt worden wäre, wäre mir wohl diese Odyssee in meiner Kindheit mit allen ihren Spätfolgen und der Öffentlichkeit eine Menge Kosten erspart geblieben. Mit dem Hüftsonographie-Screening ist dies heute möglich und ich würde mir wünschen, dass diese Chance genutzt wird. Dass nun ausgerechnet hier der Sparhebel angesetzt werden soll, ist mir unbegreiflich und ich hoffe sehr, dass in dieser Sache das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Helene Felber